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1. Kapitel: Die Zuckerallergie

Der junge Wichtel Wuzzi läuft aufgeregt in seiner Werkstatt hin und her. Auf dem Boden verstreut liegen unzählige aufgeschlagene Bücher über Zaubertränke aller Art. Über dem Feuer im Kamin baumelt an einem Haken ein Kessel mit blubberndem Wasser. Es riecht nach Thymian und Weihrauch. Aber auch ein bisschen nach Ruß.

Wo ist bloß die Zuckerdose? Ohne Zucker kann der Heiltrank nicht gelingen. Wuzzi bleibt vor einer unbeschrifteten Dose stehen und nimmt den Deckel ab. Die Dose ist mit kleinen, weißen Körnern gefüllt. Er hält seine Nase hinein und nimmt einen tiefen Atemzug. Ein süßlicher Duft steigt auf.

Da Wuzzi von Geburt an eine Zuckerallergie hat, darf er von keinem Zucker kosten. Selbst eine winzige Menge reicht aus, dass ihm davon übel wird und er sich übergeben muss.

Er läuft zu dem Kessel und kippt etwas von dem Inhalt in das köchelnde Wasser. Es dauert keine fünf Sekunden, bis große Dampfblasen emporsteigen. Wuzzi schaut ihnen hinterher, da entdeckt er ein Honigglas auf einem der Regale, auf dem in großen Buchstaben ZUCKER steht. Er guckt auf die Dose in seiner Hand. War wohl doch nicht der Zucker, denkt er.

Die Dampfblasen schweben über Wuzzis Kopf hinweg durch die Werkstatt. Als der Wichtel sich gerade überlegt, wie er sie zerstören könnte, ohne dabei seine geliebte Werkstatt zu verunstalten, klopft es leise an der Tür.

„Wuzzi, bist du da?“, ruft eine zarte Stimme. Sie gehört der Fee Luna, seiner besten Freundin.

„Ja, ich bin hier“, ruft Wuzzi. „Aber du solltest besser draußen bleiben. Ich habe so ein komisches Gefühl, dass gleich etwas passieren könnte.“

Die Blasen beginnen zu vibrieren. Wuzzi geht in Deckung und im gleichen Moment gibt es einen lauten Knall. Die klebrige Masse der geplatzten Blasen schießt durch die Werkstatt und bleibt an den Regalen und Wänden hängen. Aufgewühlter Staub schwebt durch die Luft. Wuzzi schaut sich kopfschüttelnd um. „So ein Mist! Das war wahrscheinlich der getrocknete Zuckerrüben-Klebstoff. Ich habe die falsche Zutat ins Wasser gekippt. Wie soll ich das wieder sauber bekommen?“, fragt er sich selbst. Dann schaut er an sich herab. Sein grüner Pulli hat nichts abbekommen. Auch seine Hose und seine blauen Schuhe, die nach vorne hin spitz zulaufen, sind verschont geblieben. Er läuft zur Tür und öffnet sie.

Luna fliegt an ihm vorbei und hält nach einem sauberen Platz Ausschau, um nicht ihr schönes, glänzendes Feenkleid, das von einem zarten Grashalm umschlossen ist, zu beschmutzen. Sie lässt sich vorsichtig auf dem obersten Brett eines Regals nieder, streckt ihre gefiederten Feenflügeln aus und schüttelt sie, um sicher zu sein, dass sich kein Staubkörnchen darauf befindet. Dann blickt sie zu ihrem Freund.

„Hast du mal wieder versucht, den Jahrhunderttrank herzustellen?“, fragt sie.

Der Wichtel schüttelt verneinend den Kopf.

„Nein, diesmal wollte ich einen Trank gegen Heiserkeit brauen. Das Rezept habe ich von meinem Urgroßvater. Ich habe aber den Zucker mit dem getrockneten Klebstoff verwechselt. An dem Jahrhunderttrank wollte ich mich heute Nachmittag noch mal versuchen.“

Alle hundert Wichteljahre stellt der Ältestenrat der Wichtelstadt Nanurb einen besonderen Zaubertrank her, der von ihnen zum Jahrhunderttrank gekürt wird. Jetzt ist es wieder so weit. Diesmal soll ein Trank erfunden werden, mit dem der Aufenthaltsort eines Wichtels ermittelt werden kann. Denn seit einiger Zeit verschwinden Wichtel im Wichtelwald Nebilva. Sie machen sich morgens auf, um nach Kräutern oder Brennholz zu suchen, und kehren nicht mehr zurück. Mit dem Trank könnten künftig alle Wichtel wieder aufgespürt werden. Sie müssten nur vor Verlassen der Stadt einen kleinen Schluck davon nehmen. Allerdings werkelt der Ältestenrat seit Ewigkeiten vergeblich an einem solchen Gebräu. Auch Wuzzi tüftelt an dem Trank. Doch mit seiner Rezeptur will er noch mehr erreichen: Auch die bereits verschwundenen Wichtel sollen wiedergefunden werden. Da alle Wesen Spuren hinterlassen, muss es möglich sein, auch die der vermissten Wichtel sichtbar zu machen. Dann müsste man diesen Spuren bloß folgen. Wenn er nur wüsste, welche Zutat er dafür benötigt.

 

Jetzt füllt er erst mal einen Eimer mit Wasser, tunkt ein Tuch hinein, wringt es aus und beginnt die Wände zu putzen. Wuzzi ist sehr stolz auf seine Werkstatt. Sein Vater hat sie an das Wohnhaus angebaut, damit er hier ungestört experimentieren kann. „Wuzzis Werkstatt“ steht auf einer Holzplanke, die über dem moosbedeckten Dach angebracht ist.

Am Morgen sind seine Eltern zu einem mehrtägigen Besuch seiner Großtante Umidela aufgebrochen. Sie wohnt am anderen Ende von Nanurb. Wuzzi wollte auf keinen Fall mit. Er hat seiner Mutter vorgegaukelt, dass er sich nicht wohlfühle. Der wahre Grund aber ist, dass er weiter an seinem Trank arbeiten will. Es ist schließlich Eile geboten. Erst gestern ist der Wichtelvater eines Klassenkameraden nicht mehr aus dem Wichtelwald zurückgekehrt. Außerdem küsst Tantchen immer so feucht. Es fühlt sich an, als ob ihm ein sabbernder Hund über das Gesicht schleckte. Und dann sind da noch diese langweiligen Erwachsenengespräche. Nein danke, hat sich Wuzzi gedacht. Da bleibe ich lieber allein zu Hause und bastle an meinem Trank weiter. Wuzzis Mutter hat daher für ihn vorgekocht und die betagte Nachbarin Somnela gebeten, regelmäßig nach ihm zu sehen.

„Bin ich froh, dass meine Eltern weg sind. Da kann ich hier alles in Ruhe sauber machen. Wie gut, dass wir Ferien haben.“

Luna fliegt zu Wuzzi hinunter und ruft: „So wie es hier aussieht, werde ich wohl auf dich aufpassen müssen.“

„Von wegen“, antwortet der Wichtel und wirft mit dem feuchten Tuch nach der Fee, ohne sie ernsthaft treffen zu wollen. Der Lappen streift das Honigglas mit dem Zucker, das sogleich zu Boden fällt und zersplittert. Wuzzi schaut sich den Schlamassel an und seufzt: „Auch das noch. Jetzt muss ich neuen Zucker kaufen.“

Luna setzt sich auf seine Schulter.

„Ich habe gehört, dass es den besten im Bonbonladen gibt. Kommst du mit?“, fragt er sie und schnappt sich seine Wichtelmütze.

 

Kurz darauf läuft Wuzzi durch die schmalen Gassen der Wichtelstadt Nanurb. Er kommt an vielen kleinen Häusern und Geschäften mit ihren farbenfrohen Fenstern vorbei, die Tag und Nacht vom hellen Licht der Lampions erleuchtet werden. Denn Nanurb ist keine gewöhnliche Stadt. Sie befindet sich unter der Erde und gleicht mit ihren weitverzweigten Gassen einem Labyrinth.

Einst lebten die Wichtel in dem Wichtelwald Nebilva, als dieser noch prachtvoll und dicht bewachsen war. Sie wohnten in Holzhütten, versteckt hinter Büschen und Baumstämmen. Manchmal streunten Pilzsammler oder Wanderer im Wald umher, aber niemand entdeckte die Hütten. Doch die Menschenstadt rückte immer näher. Im Wald roch es nach Abgasen der Autos und nach Rauch, der aus den Kaminen der Häuser quoll. Es dauerte nicht lange, bis sich die Nadeln der Tannen und die Blätter der Büsche gelblich verfärbten und die ersten Bäume krank wurden und starben. Da entschlossen sich die Wichtel, die unterirdische Stadt Nanurb zu gründen, die von nun an ihre Heimat war. Der Haupteingang liegt in einem riesigen umgestürzten Baum, dessen Wurzeln wie Spinnenarme nach allen Seiten in die Luft ragen.

In Nanurb gibt es alles, was man braucht: eine Bäckerei, einen Gemüsehändler, einen Arzt, eine Bibliothek, einen Spielplatz und eine Wichtelschule. Auch wenn die Wichtelkinder an manchen Tagen sagen, dass man die Schule nicht wirklich brauche. Das Lieblingsgeschäft aller jungen Einwohner ist aber der Bonbonladen von Wichtela Herbaline. Er ist bis unter die Decke gefüllt mit Dingen, die jedes Wichtelkinderherz höherschlagen lässt: mit bunten Fruchtgummis, klebrigen Lollis, Kuchenkeksen mit extra Krümeln obendrauf, Pralinen mit buntem Zuckerguss, Puddingen aller Art und noch vielem mehr. Die verführerischen Aromen der zuckersüßen Leckereien sind schon viele Meter vor dem Bonbonladen zu riechen. Es duftet nach feinster Schokolade, gebratenen Äpfeln und Mandeln, Karamell und Vanillecreme.



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